David

       

NACHT IN

BERLIN

Paolo Caneppele und Günter Krenn

Joseph Roth in der Comicserie Corto Maltese

Einer der bekanntesten Protago- nisten der italienischen Literatur ist

1321 ein Reisender, der unter der An- leitung kundiger Führer unterwegs ist, um Hölle, Fegefeuer und Paradies zu durchwandern. Erzählt wird von ihm in der Göttlichen Komödie, sein Name ist Dante Alighieri, seine Tuto- ren sind Vergil (der selbst in seiner Aeneis über einen Weitgereisten be- richtet) und seine Angebetete, die früh verstorbene Beatrice.

Wie Dante ist auch die italienische
Comicfigur 
Corto Maltese seit dem Jahr 1967 als Reisender unterwegs, sein Erfinder war der in Rimini geborene Welt- bürger Hugo Pratt (1927-1995). Generationen von Leserin- nen und Lesern erkennen Corto an der leptosomen Gestalt mit struppigem Haar und Backenbart, dem Seemannsge- wand samt Kapitänsmütze. Geboren wurde er, so legte es Hugo Pratt fest, 1887 als Sohn eines britischen Seemanns und einer spanischen Roma auf Malta, wo er in der jüdischen Schule die Thora, den Talmud und die Kabbala studiert. Da- nach reist Corto in der Tradition der Figuren von Jo-
seph Conrad 
oder Herman Melville über alle Meere
und Kontinente bis hin zum sagenumwobenem Kon-
tinent Mu. Seine Abenteuer bestehen aus einer Mi- schung an dramatischer Handlung und mystischen Traumsequenzen, welche dem manchmal trivialen
Teil der 
Story einen poetischen an die Seite stellen. Auf
seinen Wegen begegnet 
Corto historischen Persön- lichkeiten wie Jack LondonHermann Hesse oder Tamara Lempicka. Hugo Pratt hatte in seinem Kon-
zept auch 
Cortos Ende vorgesehen, doch dazu kam es nicht, denn ihr Schöpfer starb vor seiner populärsten Figur.

Mit Pratts Tod schien 1995 auch Cortos Lebensweg been- det, doch dieser Umstand änderte sich zwei Jahrzehnte spä- ter, als die Spanier Juan Díaz Canales und Rubén Pellejero 2015 damit begannen, neue Geschichten rund um den ruhe- losen „Kapitän ohne Schiff“ zu entwickeln. Wie im Fall von

Asterix, der seit 2013 von Jean-Yves Ferri und Didier Con- rad erfolgreich zu neuen Abenteuern geführt wird, schafften die Spanier mit Corto Maltese Ähnliches, auch wenn in bei- den Fällen manche Fans nicht bereit sind, den „apokryphen“ Weg mitzugehen.

„Die Zeiten sind hart für Zauberer“

In dem im Jahr 2022 erschienenen Abenteuer Nacht in DAVID Nr. 142 |2024

page2image54992192 page2image54999056 page2image54990736 page2image54985744 page2image54992400 page2image54987408 page2image54994272 page2image54994688 page2image54992816 page2image54995104 page2image54988864 page2image54998640 page2image54987824 page2image54991776 page2image54989904 page2image54986368 page2image54987616 page2image54988448 page2image54993856 page2image54988240 page2image54998432 page2image54997808 page2image54995520 page2image54986160 page2image54999264 page2image54986992 page2image54989072 page2image54993648 page2image54988032

Berlin ist ein österreichischer Schriftsteller Cortos Vergil, der sich im Vorwort so introduziert: „Mein Name ist Joseph Roth und mein Leben bestand aus Schreiben. Nun ja, Schreiben, Trin- ken, Lesen, Denken, Lieben.“1 Die Handlung spielt im Berlin des Jahres 1924. Corto trifft dort Joseph Roth und beobachtet mit ihm erste Anzeichen für den Niedergang der Weimarer Republik, die von totalitären Ideen aus dem linken wie dem rechten Spektrum bedroht wird. Neben Roth begegnet man im Buch auch Gustav Meyrink, dem Autor des GolemMar- lene Dietrich, dem Boxer Max Schmeling, dem sozialdemo- kratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert sowie als

Zerrkarikatur auf der Kabarett- bühne einem Mann, der zu jener Zeit noch in der Festung Lands- berg einsitzt: Adolf Hitler.

Corto Maltese möchte in Berlin den Mord an seinem Freund, dem jüdischen Professor Jeremiah Stei- ner aufklären, woran die bereits mit NS-Sympathisanten besetzte Polizei kein Interesse zeigt. Wohl nicht unbeeinflusst von der erfolg- reichen Fernsehserie Berlin Baby- lon sieht man Corto in der Kabarett- und Filmszene nach den Hinter- gründen für Steiners Tod suchen.

Dabei begegnen er und Joseph Roth der rechtsextremen „Or- ganisation Consul“, die 1922 den deutschen Aussenminister Walther Rathenau ermordet. Antisemitismus und autoritä- rer Wahn bestimmen ihr Tun, ihr Ziel ist die Vernichtung der Demokratie, ihre geheimen Unterstützer sitzen in der Politik, der Industrie und der Armee.

Auf der Suche nach den Rathenau-Papieren, deren Inhalt die Machenschaften der Terrororganisation belegt, reist Corto weiter nach Prag und begegnet dort realen Gefahren ebenso wie in Traumszenen Rabbi

Löw, dem Golem, dem Habs- burger Kaiser Rudolf II., Jo- hannes KeplerTycho BracheArcimboldo ... womit die Ge- schichte wieder bei Hugo Pratts Metaphorik angelangt ist – man mag dabei auch an

die Werke von Leo Perutz denken.

Bereits in Berlin gerät Corto an die esoterische Gesellschaft „Stella Matutina“, deren Logenbrüder ihn für das geheimnis- volle Medium Makropulos halten.2 In Prag trifft er sie wieder,

sucht wie sie eine mysteriöse Tarot-Karte, die ihrem Finder eine bedeutende Erkenntnis verspricht und gerät dabei in die Aufnahmen zu einem Film namens „Bestia triumphans“.3 Tatsächlich mag man sich bei der Betrachtung mancher von Rubén Pellejero gestalteten Tafeln von Nacht in Berlin an die Kameraästhetik der Filme von Fritz Lang oder Robert Wie- ner erinnert fühlen. Eine Kinowerbung zu F. W. Murnaus Der letzte Mann mit Emil Jannings in der Titelrolle wird im Hintergrund einer in Berlin spielenden Szene zitiert. Joseph Roth befindet in einem seiner Artikel, es sei „einer der besten Filme nicht nur Deutschlands, sondern der Welt.“4

   
page2image54998848 page2image54994064
    page3image54895344 page3image54899712 page3image54894928 page3image54887024 page3image54893264 page3image54892224 page3image54897632 page3image54899088 page3image54899920 page3image54900960 page3image54894720 page3image54898672 page3image54890976 page3image54886608 page3image54888480 page3image54899504 page3image54898048 page3image54891184 page3image54890144 page3image54889104 page3image54893472 page3image54893888 page3image54896176 page3image55045296 page3image55038016 page3image55043008 page3image55017472 page3image55017680 page3image55017888

Am Ende von Nacht in Berlin findet Corto die gesuchte mystische Karte. Zum Lohn trifft er den totgeglaubten Freund wieder, der seine Ermordung selbst inszeniert hatte, um un- terzutauchen, nachdem er an die Rathenau-Schriften ge- langt war. Die Wendung erinnert an Graham Greenes Der Dritte Mann, auch wenn dessen Geschichte Jahrzehnte später im nahegelegenen Wien spielt. Steiners Familie hat Pogrome im Osten überlebt, nun muss er zusehen, wie die Faschisten diese in ungeahnter Dimension erneut inszenieren. Nach- dem Corto die von Steiner verwahrten Papiere erhält, werden führende

Mitglieder der „Operation

Consul“ darauf-
hin in Berlin ver-
haftet, doch da-
mit trifft man
nur ein Haupt
der rechtsnatio-
nalen Hydra.
Das 
Happy End bleibt aus, wie uns die Geschichte lehrt. Als Epilog be- kennt Corto lakonisch: „Ich bin nicht sicher, ob Magie noch heute wirkt. Die Zeiten sind hart für Zauberer. Es sind überhaupt harte Zeiten“.

„Eine Gesellschaft ohne Erinne- rung ist eine Zeitbombe“

Und Joseph Roth? Er ist in Nacht in Berlin der Serie die Zentralfigur an Cortos Seite. Die Wachsamkeit gegenüber persönlichen Einschränkungen von allen Seiten, ruheloses Wandern durch viele Orte sowie Hinwendung zu den Ge- nüssen des Lebens verbinden beide. Nachdem Corto von Steiners Tod erfahren hat, betrinken sie sich gemeinsam; ein Menetekel für Roths fatale Alkoholsucht. „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“, klagt Roth gegenüber Stefan Zweig 1932, „ich selbst bin eine Klagemauer, ein Trümmerhaufen. Sie wissen nicht, wie dunkel es in mir ist.“5 Woher Corto und Roth einander kennen, bleibt offen, warum sie sich in Berlin tref- fen, ist unklar. „Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin?“ fragt Roth in seinem Buch Juden auf Wanderschaft.6 Im sel- ben Text erzählt er von Kabarettbesuchen und zitiert auch das in Berlin kursierende kleine Modell des salomonischen Tempels von Jerusalem, das zu Beginn von Nacht in Berlin der

„Operation Consul“ in die Hände fällt.
Zum Auftakt der Geschichte sehen sich die beiden Freun-

de in einem Kabarett eine Hitler-Persiflage an und hören da- bei: „Eine Gesellschaft ohne Erinnerung ist eine Zeitbombe.“

Joseph Roth wird Hitlers Aufstieg weiter beobachten: „Hit- ler endet im Desaster oder in der Monarchie,“ schreibt er 1933 und gib sich keinen Illusionen hin: „Es gibt in 5 Monaten kei- nen Verleger, keinen Buchhändler, keinen Autor unserer Art.“7 Mit den Nazis machen Corto und Roth persönlich Bekannt- schaft, als deren Schlägertrupp sie beim Besuch einer Veran- staltung von Friedrich Ebert angreift. Corto prügelt sich dabei mit der Polizei, die längst auf der Seite der Gewalt steht. Wäh- rend der Seemann in den Nachtclubs unterwegs ist, wird Roth von der Polizei heimgesucht und misshandelt. Er bleibt jedoch unerschrocken und händigt im Zuge eines Interviews für die Frankfurter Zeitung Friedrich Ebert die Rathenau-Pa-

page3image55018304 page3image55018512 page3image55018720 page3image55018928 page3image55019136 page3image55019344 page3image55019552 page3image55019760 page3image55019968 page3image55020176 page3image55020384 page3image55020592 page3image55020800 page3image55021008 page3image55021216 page3image55021424 page3image55021632 page3image55021840 page3image55022048 page3image55022256 page3image55022464 page3image55022672 page3image55022880 page3image55023088 page3image55023296 page3image55023504 page3image55023712 page3image55023920 page3image55024128 page3image55024336

piere aus. Der Reichspräsident will sie nicht veröffentlichen, aus Furcht, dies könnte einen Staatsstreich auslösen. Die ein- zige Chance sieht er darin, die Gewalt im Staat weiter einzu- dämmen, da sonst die Fanatiker das Land in den Untergang führen könnten. Roth antwortet darauf mit prophetischem Zweifel: „Hoffentlich ist es nicht schon zu spät.“ Ebert stirbt ein Jahr später an einer zu spät behandelten Blinddarmentzün- dung, sein Nachfolger wird Paul von Hindenburg, der 1933 Hitler als Reichskanzler angelobt. Roths Kommentar dazu er- folgt ein paar Tage später und ist eindeutig: „Es ist gelungen,

die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“8

Joseph Roth publizierte in Jahr 1924 die Romane Hotel Savoy und Die Rebellion. Das Konterfei des Schriftstellers ist im Comic mit knappen Strichen umrissen und dennoch gut erkennbar. Sätze aus

Nacht in Berlin wie „Als erfahrener See- mann sah Corto die gewaltige Welle kommen, die alles unter sich begraben sollte: die freien Wahlen, sexuelle

Freizügigkeit, die ex-

perimentellen Küns- te“ können auf ihr literarisches Vorbild verweisen und ma-

chen Lust, Joseph Roth wieder einmal zu lesen.

Nachlese

Juan Díaz Canales, Rubén Pellejero, Corto Maltese: Nacht in Berlin, Band 16, Hamburg: Schreiber & Leser 2022, arranged through Édition Casterman, Belgium.

Anmerkungen

1 Alle Zitate, wenn nicht anders bezeichnet, stammen aus: Juan Díaz Canales, Rubén Pellejero, Corto Maltese: Nacht in Berlin, Band 16, Hamburg: Schreiber & Leser 2022.

2 Mit dieser Figur vollzieht der Comic ein weiteres Crossover: Hieronymos Makropulos war im 16. Jahrhundert Leibarzt von Rudolf II. und residierte in Prag. Der tschechische Schriftsteller Karel Čapek schrieb 1922 das Stück Die Sache Makropulos, das der Komponist Leoš Janáček 1926 als Oper auf die Bühne brachte. Eine für Connaisseurs interessante kulturelle Verschachtelung innerhalb des Corto Maltese-Univer- sums.

3 Der, was die Kinematographie betrifft, erfundene Titel bezieht sich auf ein gleichnamiges tschechisches Manifest, das auf die Zerstörung historischer Bauten zugunsten neuer Architektur hinwies.
4 Joseph Roth, Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos, Herausgegeben und kommentiert von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel, Göttingen: Wallstein Verlag 2014, S. 141.
5 Joseph Roth, Stefan Zweig, Jede Freundschaft mit mir ist verderblich, Briefwechsel 1927-1938, Zürich: Diogenes 2014, S. 80.
6 Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985, S. 47.
7 Joseph Roth, Stefan Zweig, Jede Freundschaft mit mir ist verderblich, Briefwechsel 1927-1938, Zürich: Diogenes 2014, S. 105.
8 Ebenda, S. 91.

Alle Abbildungen: Verlag Schreiber & Leser, mit freundlicher Genehmi-

       
 

Fenster schliessen