David
NACHT IN BERLIN Paolo Caneppele und Günter Krenn Joseph Roth in der Comicserie Corto Maltese Einer der bekanntesten Protago- nisten der italienischen Literatur ist 1321 ein Reisender, der unter der An- leitung kundiger Führer unterwegs ist, um Hölle, Fegefeuer und Paradies zu durchwandern. Erzählt wird von ihm in der Göttlichen Komödie, sein Name ist Dante Alighieri, seine Tuto- ren sind Vergil (der selbst in seiner Aeneis über einen Weitgereisten be- richtet) und seine Angebetete, die früh verstorbene Beatrice. Wie Dante ist auch die italienische Mit Pratts Tod schien 1995 auch Cortos Lebensweg been- det, doch dieser Umstand änderte sich zwei Jahrzehnte spä- ter, als die Spanier Juan Díaz Canales und Rubén Pellejero 2015 damit begannen, neue Geschichten rund um den ruhe- losen „Kapitän ohne Schiff“ zu entwickeln. Wie im Fall von Asterix, der seit 2013 von Jean-Yves Ferri und Didier Con- rad erfolgreich zu neuen Abenteuern geführt wird, schafften die Spanier mit Corto Maltese Ähnliches, auch wenn in bei- den Fällen manche Fans nicht bereit sind, den „apokryphen“ Weg mitzugehen. „Die Zeiten sind hart für Zauberer“ In dem im Jahr 2022 erschienenen Abenteuer Nacht in DAVID Nr. 142 |2024 |
Berlin ist ein österreichischer Schriftsteller Cortos Vergil, der sich im Vorwort so introduziert: „Mein Name ist Joseph Roth und mein Leben bestand aus Schreiben. Nun ja, Schreiben, Trin- ken, Lesen, Denken, Lieben.“1 Die Handlung spielt im Berlin des Jahres 1924. Corto trifft dort Joseph Roth und beobachtet mit ihm erste Anzeichen für den Niedergang der Weimarer Republik, die von totalitären Ideen aus dem linken wie dem rechten Spektrum bedroht wird. Neben Roth begegnet man im Buch auch Gustav Meyrink, dem Autor des Golem, Mar- lene Dietrich, dem Boxer Max Schmeling, dem sozialdemo- kratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert sowie als Zerrkarikatur auf der Kabarett- bühne einem Mann, der zu jener Zeit noch in der Festung Lands- berg einsitzt: Adolf Hitler. Corto Maltese möchte in Berlin den Mord an seinem Freund, dem jüdischen Professor Jeremiah Stei- ner aufklären, woran die bereits mit NS-Sympathisanten besetzte Polizei kein Interesse zeigt. Wohl nicht unbeeinflusst von der erfolg- reichen Fernsehserie Berlin Baby- lon sieht man Corto in der Kabarett- und Filmszene nach den Hinter- gründen für Steiners Tod suchen. Dabei begegnen er und Joseph Roth der rechtsextremen „Or- ganisation Consul“, die 1922 den deutschen Aussenminister Walther Rathenau ermordet. Antisemitismus und autoritä- rer Wahn bestimmen ihr Tun, ihr Ziel ist die Vernichtung der Demokratie, ihre geheimen Unterstützer sitzen in der Politik, der Industrie und der Armee. Auf der Suche nach den Rathenau-Papieren, deren Inhalt die Machenschaften der Terrororganisation belegt, reist Corto weiter nach Prag und begegnet dort realen Gefahren ebenso wie in Traumszenen Rabbi Löw, dem Golem, dem Habs- burger Kaiser Rudolf II., Jo- hannes Kepler, Tycho Brache, Arcimboldo ... womit die Ge- schichte wieder bei Hugo Pratts Metaphorik angelangt ist – man mag dabei auch an die Werke von Leo Perutz denken. Bereits in Berlin gerät Corto an die esoterische Gesellschaft „Stella Matutina“, deren Logenbrüder ihn für das geheimnis- volle Medium Makropulos halten.2 In Prag trifft er sie wieder, sucht wie sie eine mysteriöse Tarot-Karte, die ihrem Finder eine bedeutende Erkenntnis verspricht und gerät dabei in die Aufnahmen zu einem Film namens „Bestia triumphans“.3 Tatsächlich mag man sich bei der Betrachtung mancher von Rubén Pellejero gestalteten Tafeln von Nacht in Berlin an die Kameraästhetik der Filme von Fritz Lang oder Robert Wie- ner erinnert fühlen. Eine Kinowerbung zu F. W. Murnaus Der letzte Mann mit Emil Jannings in der Titelrolle wird im Hintergrund einer in Berlin spielenden Szene zitiert. Joseph Roth befindet in einem seiner Artikel, es sei „einer der besten Filme nicht nur Deutschlands, sondern der Welt.“4 |
Am Ende von Nacht in Berlin findet Corto die gesuchte mystische Karte. Zum Lohn trifft er den totgeglaubten Freund wieder, der seine Ermordung selbst inszeniert hatte, um un- terzutauchen, nachdem er an die Rathenau-Schriften ge- langt war. Die Wendung erinnert an Graham Greenes Der Dritte Mann, auch wenn dessen Geschichte Jahrzehnte später im nahegelegenen Wien spielt. Steiners Familie hat Pogrome im Osten überlebt, nun muss er zusehen, wie die Faschisten diese in ungeahnter Dimension erneut inszenieren. Nach- dem Corto die von Steiner verwahrten Papiere erhält, werden führende Mitglieder der „Operation Consul“ darauf- „Eine Gesellschaft ohne Erinne- rung ist eine Zeitbombe“ Und Joseph Roth? Er ist in Nacht in Berlin der Serie die Zentralfigur an Cortos Seite. Die Wachsamkeit gegenüber persönlichen Einschränkungen von allen Seiten, ruheloses Wandern durch viele Orte sowie Hinwendung zu den Ge- nüssen des Lebens verbinden beide. Nachdem Corto von Steiners Tod erfahren hat, betrinken sie sich gemeinsam; ein Menetekel für Roths fatale Alkoholsucht. „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“, klagt Roth gegenüber Stefan Zweig 1932, „ich selbst bin eine Klagemauer, ein Trümmerhaufen. Sie wissen nicht, wie dunkel es in mir ist.“5 Woher Corto und Roth einander kennen, bleibt offen, warum sie sich in Berlin tref- fen, ist unklar. „Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin?“ fragt Roth in seinem Buch Juden auf Wanderschaft.6 Im sel- ben Text erzählt er von Kabarettbesuchen und zitiert auch das in Berlin kursierende kleine Modell des salomonischen Tempels von Jerusalem, das zu Beginn von Nacht in Berlin der „Operation Consul“ in die Hände fällt. de in einem Kabarett eine Hitler-Persiflage an und hören da- bei: „Eine Gesellschaft ohne Erinnerung ist eine Zeitbombe.“ Joseph Roth wird Hitlers Aufstieg weiter beobachten: „Hit- ler endet im Desaster oder in der Monarchie,“ schreibt er 1933 und gib sich keinen Illusionen hin: „Es gibt in 5 Monaten kei- nen Verleger, keinen Buchhändler, keinen Autor unserer Art.“7 Mit den Nazis machen Corto und Roth persönlich Bekannt- schaft, als deren Schlägertrupp sie beim Besuch einer Veran- staltung von Friedrich Ebert angreift. Corto prügelt sich dabei mit der Polizei, die längst auf der Seite der Gewalt steht. Wäh- rend der Seemann in den Nachtclubs unterwegs ist, wird Roth von der Polizei heimgesucht und misshandelt. Er bleibt jedoch unerschrocken und händigt im Zuge eines Interviews für die Frankfurter Zeitung Friedrich Ebert die Rathenau-Pa- |
piere aus. Der Reichspräsident will sie nicht veröffentlichen, aus Furcht, dies könnte einen Staatsstreich auslösen. Die ein- zige Chance sieht er darin, die Gewalt im Staat weiter einzu- dämmen, da sonst die Fanatiker das Land in den Untergang führen könnten. Roth antwortet darauf mit prophetischem Zweifel: „Hoffentlich ist es nicht schon zu spät.“ Ebert stirbt ein Jahr später an einer zu spät behandelten Blinddarmentzün- dung, sein Nachfolger wird Paul von Hindenburg, der 1933 Hitler als Reichskanzler angelobt. Roths Kommentar dazu er- folgt ein paar Tage später und ist eindeutig: „Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“8 Joseph Roth publizierte in Jahr 1924 die Romane Hotel Savoy und Die Rebellion. Das Konterfei des Schriftstellers ist im Comic mit knappen Strichen umrissen und dennoch gut erkennbar. Sätze aus Nacht in Berlin wie „Als erfahrener See- mann sah Corto die gewaltige Welle kommen, die alles unter sich begraben sollte: die freien Wahlen, sexuelle Freizügigkeit, die ex- perimentellen Küns- te“ können auf ihr literarisches Vorbild verweisen und ma- chen Lust, Joseph Roth wieder einmal zu lesen. Nachlese Juan Díaz Canales, Rubén Pellejero, Corto Maltese: Nacht in Berlin, Band 16, Hamburg: Schreiber & Leser 2022, arranged through Édition Casterman, Belgium. Anmerkungen 1 Alle Zitate, wenn nicht anders bezeichnet, stammen aus: Juan Díaz Canales, Rubén Pellejero, Corto Maltese: Nacht in Berlin, Band 16, Hamburg: Schreiber & Leser 2022. 2 Mit dieser Figur vollzieht der Comic ein weiteres Crossover: Hieronymos Makropulos war im 16. Jahrhundert Leibarzt von Rudolf II. und residierte in Prag. Der tschechische Schriftsteller Karel Čapek schrieb 1922 das Stück Die Sache Makropulos, das der Komponist Leoš Janáček 1926 als Oper auf die Bühne brachte. Eine für Connaisseurs interessante kulturelle Verschachtelung innerhalb des Corto Maltese-Univer- sums. 3 Der, was die Kinematographie betrifft, erfundene Titel bezieht sich auf ein gleichnamiges tschechisches Manifest, das auf die Zerstörung historischer Bauten zugunsten neuer Architektur hinwies. Alle Abbildungen: Verlag Schreiber & Leser, mit freundlicher Genehmi- |